»Wer fähig ist zu leiden, vermag auch zu wagen«

Carl Hilty

1899

geisselung

Aus: »Was sollen wir tun? - Eine Auswahl aus Carl Hiltys Schriften« (Evangelische Verlagsanstalt Berlin, 1959). Es handelt sich bei dem Text um eine gekürzte Fassung des Kapitels »Qui peut souffrir, peut oser« aus dem dritten Teil der »Glück«-Reihe von Carl Hilty.

Warum gibt es soviel Leiden auf der Welt? So fragen viele bekümmerte Seelen, denen ihr eigenes Geschick rätselhaft oder ungerecht vorkommt. Die Tatsache, daß es so ist, ist ohne weitere Diskussion zuzugeben. Ebenso schließen wir die Frage der Vergeltung aus und hoffen, unsere Leser seien innerlich einverstanden damit, daß jeder Schuld auf Erden ein Leiden von Rechts wegen folge. Richtig bleibt dennoch, daß in manchen Fällen die Leiden, welche einem Menschen auferlegt werden, unverschuldet zu sein oder wenigstens nicht im rechten Verhältnis zu einer offenbaren Verschuldung zu stehen scheinen, so daß man die Frage doch mit Grund in der Begrenzung stellen kann: Warum müssen auch die Guten in dieser Welt soviel leiden? - Die Frage ist nicht die, wie man dem Leiden ausweichen oder es beseitigen kann, was stets nur teilweise oder mit zweifelhaften Mitteln möglich ist, sondern wie man es überwindet, und weshalb es für die Guten gut ist. Denn den Schlechten es abzunehmen, ohne daß sie gut werden wollen, das ist unmöglich, und dazu ist auch niemand verpflichtet.

Das Buch Hiob hat uns eine geisterfüllte Beantwortung dieser Frage hinterlassen. Das Schlußresultat ist: Hiob, der doch bei aller Frömmigkeit ein etwas selbstgerechter und in allem Glück wegen dessen Unbeständigkeit und möglichem Mißbrauch von Furcht geprägter Mann war, wird nunmehr ein über das Glück erhabener Mann, auf den Gott fortan ohne Besorgnis des Nichtertragens die Fülle seines Segens ausschütten kann, und mit dem er über den Weltgeist einen entschiedenen, in alle Jahrhunderte hinaustönenden Sieg davonträgt, der schon unzählige betrübte Herzen wiederaufgerichtet und ermutigt hat (Hiob 3,25.26; 6,17-19; 42,4-6.10-12).

Es ist vielleicht das Kürzeste und Korrekteste, was zur Rechtfertigung des Leidens der Guten gesagt werden kann: sie werden dadurch besser, vom Ankleben an manche Dinge, welche die Glücklichen beständig herabziehen, freier, von allerlei schlechter oder gleichgültiger Gesellschaft und Beschäftigung gelöster, aufmerksamer für die wahrhaft soliden Güter, mitleidiger gegen andere, die auch leiden, freier von Furcht vor dem Verlust der Besitztümer der Erde, selbst des Lebens und daher geeigneter, ein »Panier aufzuwerfen über die Völker« und für den Gott, den sie bekennen.

Kein Mensch, der nicht gelitten hat und zu leiden versteht, kann das; er kommt nicht über eine gewisse Mittelmäßigkeit hinaus, lernt Gott nie völlig kennen und verliert nie die Furcht vor Leiden, die das größte Hindernis des Guten in der Welt ist. Daher ist das französische Sprichwort wahr: Qui peut souffrir, peut oser (wer zu leiden vermag, kann auch wagen). Andere taugen für das Wagnis nicht. Ein Wagnis ist es, dem Geist, welchen das Evangelium »den Fürsten dieser Welt« nennt, die Herrschaft auch bloß über seine eigene Seele zu entreißen; wer aber das Wagen nicht kennt, der kennt auch das größte Glück dieser Welt nicht, den Geist, der die Helden macht. Er kennt auch den Willen Gottes nicht, der aus uns so wenig als bloße Genussmenschen, die bloß »sich selbst ausleben«, weinerliche Gefühlsmenschen machen will, denen alles zu schwer und zu hart ist, die ewig die Köpfe hängen und über das Böse seufzen, statt frisch Hand anzulegen, um es soviel als möglich zu bessern. Dazu müssen wir geprüft werden, so schwer, als es möglich ist, denn wir sollen die kräftige Seite unseres Wesens, die allein für die Ewigkeit taugt, in der Zeit ausbilden. Die Geschichte Hiobs und ebenso die Geschichte der Versuchung Christi sind also heute noch erlebbar, und jeder Mensch von dauernder Bedeutung in der Welt macht sie durch, bevor er diese Bedeutung gewinnt.

Der Apostel Paulus gibt noch zwei weitere gute Gründe für das Leiden der Guten an (2. Korinther 1,3-6.9): Gott sendet den Guten Trübsal und Trost, Erfahrung des Leidens und der Hilfe, »damit wir auch trösten können die, welche sich in allerlei Trübsal befinden, mit dem gleichen Troste, durch den wir von Gott getröstet worden sind.« Ein »Sohn des Trostes« werden, diesen Ehrentitel erwerben kann man auch heute nur durch Leiden und öftere Erfahrung der Macht und Hilfe Gottes. Die Leidenden haben alle ein sehr feines Gefühl dafür, ob der, welcher sie trösten und beruhigen will, selbst recht weiß, wie sie leiden, weil er es selber erfahren hat, und ob er selbst tatsächlich imstande war, das zu leisten, was er ihnen zumutet. Ist das nicht der Fall, so gleiten die frömmsten Worte an ihren betrübten Seelen ab. Das ist der Grund, weshalb die Psalmen Davids noch heute einen Widerhall in unsern Herzen finden, sie sind erlebt; ebenso die Lieder Paul Gerhardts oder Luthers oder das Feldlied Gustavs Adolfs. Das Leiden ist die Schule für das Lehren (Prediger 1,18), die göttliche Berufung und Legitimation dazu, ohne welche die Menschen niemandem Vertrauen schenken.

Der andere Grund des Paulus, den er in einer sehr schweren Zeit lernte, ist der, »das geschieht darum, damit wir unser Vertrauen nicht auf uns selbst sollen stellen, sondern auf Gott, der uns täglich errettet, so daß wir hoffen dürfen, er werde uns auch fürderhin erretten.« Von Natur ist der Mensch furchtsam; der tierische Mut, der bloß aus Gesundheit und körperlichem Kraftgefühl stammt, hält niemals in sehr großen oder sehr lange dauernden Gefahren aus. Leiden machen den Menschen stark, oder sie zerbrechen ihn. Je nach seinem Fond, den er in sich trägt. Man glaubt nie im Glück, was man aushalten kann im Leid; dann erst lernt man sich kennen.

Die praktischen Erfahrungen, die man über das Leiden machen kann, sind besonders folgende: Sehr schwere Momente, in welchen die Leiden unerträglich erscheinen, sind meistens von kurzer Dauer; erfahrungsgemäß nehmen sie am dritten Tage ein Ende, oder es tritt wenigstens eine Erleichterung ein. Man darf daher nicht allein darauf von vornherein hoffen, sondern man muß auch möglichst die Phantasie ausschließen, die dem Menschen eine unbegrenzte Dauer seiner Leiden vorspiegelt, wie sie tatsächlich nie besteht. Gott hilft auch nur gegen wirklich vorhandene Leiden, nicht gegen ihre selbstgeschaffenen und unnötigen Verschärfungen mittels der Ausschreitungen der Phantasie. – Niemals muß man mit sich selbst reden oder sich Zwangsgedanken hingeben, sondern mit Gott reden. Das hat eine ganz andere Wirkung auf das Gemüt und auf das Leiden selber. –

Niemals muß man sich vor Menschen fürchten oder dem Haß oder Zorn einen Raum gestatten, welcher das Leiden unnötig steigert. – Eine allgemeine Erfahrung ist die, daß die Leiden nicht auf einmal verschwinden, sondern sich langsam zurückziehen, wenn sie einmal den Kulminationspunkt überschritten haben; dann aber oft noch einmal zu einem kurzen Ansturm zurückkehren, welcher die Wurzel des Übels noch beseitigen muss. Der Kulminationspunkt ist immer die Ergebung in den Willen Gottes, und es kann dann dahin kommen, dass in besonders stark gewordenen Herzen eine Art Wehmut des Abschieds von dem Kreuz stattfindet, das lange Zeit der treue und wohltätige Gefährte der Seele gewesen ist, an den sie sich beinahe gewöhnt hat. Wenn dies Gefühl des Dankes vorhanden ist, dann hat das Leiden seine Pflicht völlig getan, und es kommt mit Sicherheit das Ende heran. – Man muß sich stets den Gedanken wach erhalten, daß Leiden mit Gott noch immer ein besseres Schicksal ist als leben oder gar leiden ohne Gott. –

Ist das Leiden ein verschuldetes, so muß man vor allen Dingen die Schuld entfernen, die die Ursache ist; sonst findet man die Hilfe und den Trost nicht, den man haben könnte (1. Johannes 3,21.22). Ist es dagegen von Gott gesandt, so hat es unfehlbar drei gute Eigenschaften: es ist ertragbar und den Kräften angemessen, oft sogar mit einer gewissen Süßigkeit der Empfindung begleitet (befördern kann man diese Freudigkeit durch gute Handlungen), welche auf der Überzeugung von seiner Heilsamkeit beruht. Es kann ferner überwunden werden durch Entschlüsse (zur Tätigkeit oder Ergebung), und es fängt an zu verschwinden, sobald dieses Richtige geschieht. Es eröffnet endlich unfehlbar dem Geist neue Einsichten, welche ihm vorher verschlossen waren, und gibt ihm neue Kräfte, die er vorher nicht besaß. Überdies kommt ein Leiden, das richtig überwunden worden ist, niemals in der ganz gleichen Art wieder; es ist daher die sicherste Garantie künftigen Glücks in dieser Richtung. Alles Leiden aber, auch das »selbstverschuldete«, kann durch Annahme als gerechte Vergeltung aus Gottes Hand zu einem »gottgesandten« mit allen obigen guten Eigenschaften gemacht werden. – Jedem großen Fortschritt müssen Leiden die Wege öffnen, wie auch jede besonders starke und gehobene Stimmung gewöhnlich die vorangehende Stärkung für kommende Leiden ist. Man kann daher durch öftere Erfahrung dieser Art zuletzt dahin gelangen, daß man in den glücklichsten Momenten sehr mäßig und vorsichtig ist, indem man mit stillem Ernst an die nächstbevorstehenden Prüfungen denkt, im Leiden dagegen innerlich fröhlich, in der Zuversicht einer baldigen neuen Einsicht und neuen Stufe des Lebens. Es lehrt also Maßhalten. – Gewöhnlich ist das Leiden im eigentlichen Sinne des Wortes, der uns ganz verlorengegangen ist, eine »Prüfung«, das heißt eine Belastungsprobe, die den wirklichen inneren Wert des Geprüften herausstellt und ihn zu einer Beförderung fähig oder noch nicht fähig erscheinen läßt.

Der Eintritt der Prüfung bedeutet also nicht: »Nun sind die guten Tage vorbei, die schweren kommen«, nicht einmal: »Halte still, leide, was nicht zu ändern ist«, sondern: »Stehe fest, dann kommt ein Gut, das sonst nicht kommen kann.« Daher besteht das Leben recht bedeutender Menschen aus einer Reihenfolge von Prüfungen, deren letzte der Tod mit Glauben an eine Auferstehung ist. Nichts beweist für einen denkenden Menschen mehr das Dasein Gottes als diese systematische Erziehung. Leider erkennt er sie oft sehr spät und widersteht ihr, statt sich ihr anzuvertrauen.

Das sind die Haupterklärungen für das Leiden der »Guten«, und sie sollten für die genügen, welche es wirklich sind, also nicht ihr eigenes Wohlbefinden auf dieser Welt als den Hauptgesichtspunkt, um den sich alles drehen muss, ansehen.

Das Schwerste im Leiden ist die beständige innere Empörung dagegen, sei es gegen Gott und das Schicksal oder gegen die Menschen, welche es mittelbar verursachen. Damit steigern sich oft kleine Leiden bis zur Unerträglichkeit, während große durch den Gedanken erträglich werden, dass sie einen Zweck haben und von guter Hand, nicht von ungefähr, als reines Unglück, kommen. Schon das Nachdenken darüber, der Versuch, diesen Zweck zu ermitteln und zu verstehen, hat eine sogar physisch erleichternde Wirkung; ebenso in späteren Lebensjahren die Erinnerung an überwundene Leiden, die alle einen Zweck gehabt haben und zuletzt nicht nur erträglich, sondern die großen Wendepunkte in unserm Leben geworden sind. – Es gibt endlich sogar Situationen, in denen das rechte Handeln nach jeder Seite hin unmöglich gemacht ist und nur das Leiden, in manchen Fällen sogar nur das Sterben die einzige noch mögliche Tat ist.

Dass Leiden vertieft, gründlicher macht, wenn es nicht erbittert und abstumpft, das weiß jeder, der es beobachtet hat, wie der Geist in gewöhnlichen Zeiten gleichsam von einer dicken Umhüllung mit oberflächlicheren Gedanken und Interessen umgeben ist, die dann alle verschwinden und einer Leichtigkeit in der Erfassung rein geistiger Dinge, einer richtigen Schätzung aller Lebensverhältnisse und einer Wahrheit der Empfindung Platz machen, die man früher mit aller Anstrengung nicht erreichen konnte. Leiden ist in dieser Hinsicht sogar besser als alles gute Handeln; man kommt in wenigen schmerzvollen Tagen und schlaflosen Nächten über Schranken des inneren Fortschritts hinweg, die unserer Naturanlage nach unübersteiglich waren (1. Korinther 11,30-32), und Eigenschaften werden in dieser Glut zerstört, die sonst nie gewichen wären.

Man muss aber im Leiden auch die Hilfe suchen, die möglich ist. Geduld und Ergebung sind sehr gut, aber auch das Wort »Herr, hilf mir«, und der Arzt oder geistliche und weltliche Ratgeber richtiger Art sind ebenfalls gut. Was zu ändern ist, ändere; was nicht zu ändern ist, ertrage; was über das hinausgeht, ist unverständig und nicht Gottes Wille. Man muß das Leiden empfinden, sonst nützt es nichts; aber auch überwinden, verwenden, innerlich wenigstens ganz beseitigen, denn das ist sein Zweck. Leiden allein macht daher auch demütig im rechten Sinne. Hildegard von Bingen sagt von den »Begnadigten«, oft verlasse Gott sie, so daß sie ganz ohne Hilfe zu sein scheinen. »Das tue ich darum, damit ihr äußerer Mensch nicht durch Hochmut aufgeblasen werde. Ich halte sie aber zugleich mit starker Hand und schaffe eben da, wo sie leiden, viel Frucht in ihnen.«

Wir tun einen ungeheuren Schritt vorwärts, wenn wir einmal begriffen haben, daß ohne Leiden das Leben fade und mittelmäßig bleiben würde, selbst bei den besten Anlagen, und daß es daher eine reine Gnade Gottes gegenüber denen ist, die er liebt, wenn er ihnen nicht zu wenig Leiden »anvertraut«. So muß man es eigentlich nennen.

Endlich gehört die Tröstung von oben in Trübsal und Anfechtung zu dem allerschönsten und besten, was es an wohltuenden Lebenserfahrungen gibt, und die, welche eine solche Erfahrung nicht selbst gemacht haben, wissen gar nicht, welcher Erhebung und Erweiterung die menschliche Seele fähig ist. Und sie sind daher auch, wie schon gesagt, niemals imstande, andere wirksam zu trösten und über die Gewöhnlichkeit des Lebens zu erheben.

Das ganze Geheimnis der Leidensfrage ist also, nochmals kurz ausgedrückt, das: Mit Gott muß man viel leiden, um seine Nähe ertragen zu können, die ein »verzehrendes Feuer« für alles Geringwertige in uns ist (Jesaja 33,14. 5. Mose 4,24; 9,3. Hebräer 12,29), kann aber auch aushalten, ohne Schaden, was andere nicht auszuhalten vermöchten, und wovor die eigene furchtsame Phantasie uns beständig bange zu machen versucht. Daher ist die Wegleitung für den, welcher diesen Weg ernstlich einschlagen will, das Wort: »Fürchte dich nicht, glaube nur!« (Markus 5,36.)

Wir wissen aus eigener reiflicher Erfahrung, daß alle guten Gedanken über die »Vorteile des Leidens« in den Augenblicken schwerster Empfindung des Leidens nicht recht helfen; dafür dienen sie umso mehr in anderen, die ihnen folgen oder vorangehen, zur Vorbereitung oder zur Erholung davon. In jenen hilft dem Menschen oft nur ein mit der letzten Kraft der Seele festgehaltener Entschluß, den Glauben an einen gerechten und gütigen Gott unter keinen Umständen aufzugeben.

Der Geist der Welt rät der auf das tiefste gebeugten Seele: »Nun gib dieser größten Täuschung deines Lebens auch noch den Abschied und stirb.« Doppelt hart klingt ein solches Wort, wenn es gar von den Lippen Nahestehender kommt, deren Beruf ein anderer wäre. Die Antwort muß aber die Hiobs oder Christi sein (Hiob 2,9.10. Matthäus 4,10; 16,23. Der 88. Psalm ist der, welcher das schwerste Leiden schildert; nicht der 22., der trostvoll schließt). Dann geht der gefährliche Augenblick vorbei, und der Sieg ist erfochten. Vielleicht um den Preis des Lebens selber, das ist nicht ausgeschlossen, aber dann ist es auch nicht bloß »ausgelebt«, sondern »vollbracht«.